Hildi fährt ein illegales Autorennen
Hildi blinkte und fuhr auf die Auffahrt der A 7 in Hamburg-Stellingen. Sie lenkte ihren ein Jahr alten, roten Alfa Romeo Giulia auf den Standstreifen und schaltete die Warnblinker ein. Ein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett zeigte, dass sie gute fünf Minuten zu früh dran war. Auf der Autobahn war wenig Verkehr, kein Wunder, schließlich war es fünf vor drei Uhr in der Nacht. Wo blieb der Kerl nur? Hildi wischte über das Display des Soundsystems und rief ihre Playlist auf. Kurz darauf dröhnte >Born to be wild< von Steppenwolf durch den Wagen. Ein Auto bog auf die Auffahrt ab und hielt neben ihr an. Der Fahrer, der sich bei ihrer Verabredung über das Internet Lauda genannt hatte – seinen richtigen Namen kannte Hildi nicht - ließ die Scheibe herunter. Hildi stellte die Musik auf Pause und tat dasselbe.
„Nicht dein Ernst! Du bist Siko und hast mich herausgefordert?“, fragte Lauda über seinen Beifahrer hinweg. Beide waren jung, vielleicht Anfang bis Mitte zwanzig, trugen kurze Bärte und hatten ihre Haare auf dem Kopf mit Gel festgeklebt. Wenn der eine nicht blond und der andere schwarzhaarig gewesen wäre, hätte man sie fast für Zwillinge halten können. Sie sahen Hildi abschätzig an.
„Ey, lass uns gleich wieder fahren. Mit der Oma hier, das ist reine Zeitverschwendung“, sagte der Beifahrer.
„Ach, ihr wollt schon aufgeben?“, fragte Hildi, die sich ihren Straßennamen nach der bekannten französischen Rennfahrerin Odette Siko ausgesucht hatte.
Die beiden lachten.
„Humor hast du ja und dein Wagen ist krass cool. Okay, ich gönn dir den Spaß. Ich geb dir einen Vorsprung, damit es fairer wird“, sagte Lauda.
Dieser arrogante junge Schnösel! Na warte, dem würde sie es zeigen, ihm würde das Lachen noch vergehen.
„Das wird nicht nötig sein“, sagte sie mit kühler Stimme.
„Okay, Alte, wie du willst.“ Der Beifahrer stieg aus und griff sich eine rote kleine Flagge vom Rücksitz. „Wenn ich die Fahne senke, fahrt ihr los. Im Elbtunnel müsst ihr beide die linke Röhre nehmen, damit es fair bleibt. In Heimfeld sind Kumpels von uns, die filmen den Zieleinlauf, damit es hinterher keine Diskussionen darüber gibt, wer gewonnen hat.“
„Alles klar“, erwiderte Hildi.
„Obwohl es sicher nicht knapp werden wird“, hörte sie noch, als sie das Fenster wieder hochfahren ließ. Sie tippte auf >Play< und Steppenwolf legte wieder los.
Der Beifahrer stellte sich an den Straßenrand und während Hildi die Warnblinklichter abstellte, ließ sie den Motor aufheulen. Der Kerl in dem schwarzen BMW M2 Sportwagen tat dasselbe. Eins musste sie ihm lassen, der Wagen sah toll aus und war sicher schnell.
Die Fahne senkte sich und Hildi gab Gas. Der Alfa schoss vorwärts, als wäre er von einer Rakete abgefeuert worden. Sie schnitt die Kurve der Auffahrt und brachte Lauda so dazu, dass er abbremsen musste. Er scherte knapp hinter ihr ein und sie schossen auf die Autobahn. Die drei Fahrspuren in Richtung Elbtunnel waren recht leer, nur auf dem rechten Fahrstreifen fuhr der ein oder andere Laster. Auf der mittleren Spur fuhren mit großem Abstand einige wenige Autos, die linke Spur war frei. Hildi drückte aufs Gas und der Alfa beschleunigte innerhalb weniger Sekunden auf knapp zweihundert Stundenkilometer. Lauda hatte anscheinend nicht damit gerechnet, dass sie so schnell sein würde, denn er war ein Stück zurückgeblieben. Die Abfahrt Volkspark flog vorbei und Hildi wechselte von der mittleren auf die linke Fahrbahn, als ein alter Golf dazu ansetzte, einen Lastwagen zu überholen. Lauda war inzwischen herangekommen und klebte ihr an der Stoßstange. Als sie an dem Golf vorbeigefahren waren, versuchte er, sie von rechts zu überholen. Hildi drückte das Gaspedal durch und der Alfa zog an. Als sie die zweihundert Stundenkilometer überschritt, rauschte das Blut in Hildis Adern und sie gab einen lauten Freudenschrei von sich. So sollte das Leben sein! Ein Blick in den Rückspiegel zeigte, dass Lauda ebenfalls alles aus seinem BMW herausholte. Die Einfahrt des Elbtunnels kam in Sicht und Hildi raste an einem Audi vorbei auf die linke Spur der linken Röhre. Lauda blieb auf der rechten Spur und kam langsam gleichauf. Er grinste ihr zu, als er direkt neben ihr war und gab noch mehr Gas. Langsam zog er an ihr vorbei und er winkte ihr zu. Plötzlich tauchte ein silberner Ford-SUV, der offenbar mit der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern fuhr, vor Laudas Wagen auf. Da er sich auf Hildi konzentriert hatte, sah er ihn erst in letzter Sekunde und zog abrupt auf Hildis Spur hinüber. Nur durch eine scharfe Bremsung konnte sie einen Unfall verhindern. Lauda nutzte seine Chance und bis Hildi wieder auf zweihundertzwanzig beschleunigt hatte, war er bereits aus dem Tunnel herausgefahren. Dem riesigen Containerschiff, das in Waltershof in dem hellerleuchteten Containerterminal lag, und der Köhlbrandbrücke, einem der Wahrzeichen von Hamburg, schenkte Hildi keinen Blick. Sie gab Gas und schaffte es, dichter an Lauda heranzukommen. Die Abfahrt Waltershof kam in Sicht und war schon wieder verschwunden. Schon an der übernächsten Ausfahrt war das Ziel, also kaum noch Zeit, Lauda einzuholen. Doch es war erst vorbei, wenn es vorbei war. Hildis Chance kam, als ein Lastwagen einen Schwertransport, der einen riesigen Flügel für ein Windrad transportierte, überholte. Ein weißer Lieferwagen scherte auf die linke Spur aus, sodass alle drei Fahrspuren von langsam fahrenden Fahrzeugen blockiert waren. Lauda musste hart abbremsen und während er seine Lichthupe überstrapazierte, um den Lieferwagen dazu zu bringen, die linke Spur freizugeben, schoss Hildi auf der Standspur an ihm und den anderen Fahrzeugen vorbei. Sie grinste, als sie sich Laudas Gesicht vorstellte, und trat das Gaspedal weiterhin voll durch. Die Abfahrt Heimfeld kam in Sicht, doch statt der Kumpel von Lauda standen zwei BMWs der Polizei dort. Die Schrift, die sie zum Anhalten aufforderte, leuchtete auf dem Dach, doch Hildi fegte an dem Streifenwagen vorbei. Es dauerte keine Sekunde, bis sie hinter sich das Heulen der Sirenen hörte. Im Rückspiegel sah sie, dass der vordere BMW die Verfolgung aufgenommen hatte. Sie raste auf den Autobahnabzweig in Richtung Bremen und über die Grenze nach Niedersachsen, den Streifenwagen dicht hinter sich. Kurz vor der nächsten Abfahrt bremste sie stark ab, zog auf die Abbiegespur hinüber und schleuderte um die Kurve. Rasch brachte sie den Wagen wieder unter Kontrolle und bog am Ende der Abfahrt nach rechts ab. Erst jetzt warf sie einen Blick in den Rückspiegel. Die Polizisten hatten es offenbar nicht geschafft, ihrem riskanten Manöver zu folgen. Hildi raste über die in tiefer Dunkelheit liegende Landstraße in Richtung der nächsten Auffahrt zur A 7, die nicht weit entfernt war. Sie hatte sich in der Vorbereitung auf das Rennen die potenziellen Fluchtwege eingeprägt – alte Gewohnheiten wurde man nur schwer los, und das war auch gut so, wie sich jetzt zeigte. Doch statt auf die Autobahn aufzufahren, wie es die Polizisten vielleicht annehmen würden, fuhr sie an der Auffahrt vorbei und weiter über schmale Landstraßen in Richtung Hamburg. In einem winzigen Nest, das nur aus zwei Häusern und einer Scheune bestehen zu schien, wechselte sie die gefälschten Kennzeichen, die sie gestern Nachmittag am Alfa angebracht hatte, zu einem weiteren Satz gefälschter Kennzeichen. Bis auf den Schrei einer Eule ganz in der Nähe war es totenstill und Hildi fragte sich nicht zum ersten Mal, wie man es aushalten konnte, mitten im Nirgendwo zu wohnen. Sie brauchte die Stadt, das pulsierende Leben um sich herum, um sich wohl zu fühlen. Nachdem sie die alten Kennzeichen im Kofferraum verstaut hatte, fuhr sie schließlich über die Elbbrücken zurück nach Hamburg. Dabei achtete sie darauf, sich an sämtliche Verkehrsregeln zu halten und kam schließlich gegen halb fünf Uhr morgens bei sich zu Hause an. Da das Adrenalin sich mittlerweile abgebaut hatte, merkte sie, wie müde sie war. Doch es hatte sich gelohnt. Sie hatte das Rennen gegen Lauda und gegen die Polizisten gewonnen.
Als sie nach ein paar Stunden tiefen Schlafs vom Telefon geweckt wurde, fühlte sie sich einfach großartig.
„Hella, guten Morgen, meine Liebe. Wie geht es dir an diesem herrlichen Tag?“
„Ich wusste es! So gut, wie du bei diesem Regenwetter gelaunt bist, musst du etwas mit dem illegalen Autorennen zu tun haben, das heute Nacht auf der A 7 gefahren wurde.“
„Wer, ich?“ Hildi lachte.
„Den anderen Fahrer haben sie erwischt. Es stand heute Morgen in der NDR-App. Offensichtlich bist du ihnen entkommen.“
„Tja, was soll ich sagen? Die alte Oma war eben besser als der junge Schnösel.“